Lukas wird am Lager von anderen Jungs dazu genötigt, sich auszuziehen, um zu beweisen, dass er tatsächlich ein Junge ist. Sylvia wird von ihrem Ehemann sexuell bedrängt, weil dieser der Meinung ist, dass eine Ehefrau vor Gott nicht das Recht hat, sich zu entziehen. Jasmin erinnert sich an verbale Gewalt in ihrer Schule – einer adventistischen. David wird nach einem Sabbatschulgespräch darauf angesprochen, dass seine Worte offensichtlich vom Teufel inspiriert wurden. Lara vertraut sich in einem Seelsorgegespräch jemandem an und muss feststellen, dass hinterher mehrere Menschen ihrer Gemeinde Bescheid wissen.
Es gibt sie auch in unseren Reihen – Menschen, die erzählen können, wie sie körperlich oder seelisch verletzt wurden. Manchmal liegt das Geschehen viele Jahre zurück und niemand hat je etwas mitbekommen, in anderen Fällen werden Mitgläubige aufmerksam und fragen sich, ob und wie sie helfen können. Vereinzelt nehmen sich Personen in gewählten Ämtern Dinge heraus, die ihnen nicht zustehen. Und dann gibt es Menschen, die der Gemeinde vorwerfen, nicht reagiert zu haben, sei es aus Unwissenheit, Angst oder Überforderung.
Was bisher getan wurde
Im Fall von sexuellen Übergriffen auf Kinder und Jugendliche hat die DSV schon vor Jahren reagiert und sich der Verantwortung gestellt, die sich aus der vielfältigen Arbeit mit dieser hochgradig schutzbedürftigen Personengruppe ergibt. Gemeinsam mit Deutschland wurde ein Fachbeirat gegründet; Heidi Albisser ist beauftragt, sich als Mitglied und Kontaktperson zur Verfügung zu stellen. Erlebt man selbst einen Übergriff oder ist Zeuge davon, bekommt man durch den Fachbeirat Unterstützung angeboten. Unsere Angestellten und auch die ehrenamtlichen Mitarbeitenden werden geschult und unterschreiben einen Verhaltenskodex, mit dem sie sich verpflichten, ihre Vertrauens- und Autoritätsstellung gegenüber Kindern und Jugendlichen nicht zu missbrauchen, sondern verantwortungsbewusst mit dem Verhältnis von Nähe und Distanz umzugehen.
Hier haben wir uns deutlich positioniert und begonnen, Opfern Hilfe zukommen zu lassen und präventiv tätig zu werden. Doch weder Lukas noch Sylvia, weder David noch Lara oder Jasmin profitieren von diesen Initiativen, wenn Einzelne in einer akuten Situation nicht couragiert reagieren und die Betroffenen unterstützen. Und das ist inakzeptabel.
Weil die Kultur innerhalb einer Kirche zählt
Gibt es menschliche Begegnung ohne Verletzungen? Können wir verhindern, dass einzelne Personen im Rahmen unserer Gemeindeaktivitäten die Würde anderer Menschen angreifen? Wird eine Unterschrift auf einem Verhaltenskodex oder ein Präventionsprojekt Täter/-innen davon abhalten, übergriffig zu werden?
Obwohl wir es uns anders wünschen, müssen wir erkennen, dass die beste Präventionsarbeit dies leider nicht restlos garantieren kann. Doch wir wollen eine Kirche sein, die die Würde von Menschen bestmöglich schützt und Verantwortung übernimmt, wo dies nicht passiert ist. Deswegen haben wir mit 60 anderen Kirchen- und Fachverbänden aus der ganzen Schweiz im Januar 2023 die Charta ‹Gemeinsam gegen Grenzverletzung› unterschrieben[1]. Es ist ein Netzwerk entstanden, in dem wir als Kirche unterstützt werden und voreinander Rechenschaft ablegen können. Wir haben als Bereich ‹Beziehung› entschieden, diese Unterstützung in Anspruch zu nehmen, und der Vereinigungsausschuss hat zugestimmt, zwischen 2024 und 2026 das Projekt ‹Schützen und Begleiten› mit professioneller Unterstützung durch die Präventionsexpertin der Evangelisch-methodistischen Kirche Natascha Bertschinger durchzuführen.
Dabei wollen wir definieren, welche Grundwerte uns beim Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen massgeblich leiten und welche Themenbereiche uns als Kirche besonders relevant erscheinen. Auch möchten wir Hinweise ausarbeiten, wie wir uns zu diesen Themen verhalten wollen. Wir, das sind Laienglieder, Pastorinnen und Pastoren, Mitarbeiter/-innen sowie Expertinnen und Experten zu unterschiedlichen Themenbereichen.
Vor allem sollen Betroffene – besonders Kinder und Jugendliche – dabei gestärkt werden, selbst für sich einzustehen, ihre Grenzen zu kennen, diese zu artikulieren, und sie sollen wissen, wo sie im Ernstfall Hilfe bekommen.
Bei der Begleitung in eine echte und lebensnahe Nachfolge, die in der Beziehung zu Gott und mit unseren Mitmenschen geschehen soll, sind wir uns bewusst, dass grenzverletzendes Verhalten auch vor unseren Kirchenmauern nicht haltmacht. Aber wir haben die Möglichkeit, zu thematisieren und zu sensibilisieren. Und auch wenn wir leider nicht die bzw. den Einzelne/-n in jedem Fall daran hindern können, eigene Entscheidungen in Bezug auf ein Verhalten zu treffen, das anderen Schaden zufügt, wollen wir in Zukunft auch als Kollektiv verletzte Menschen wie Lukas, Sylvia, Jasmin, Lara und David schützen und begleiten, wie auch der Öffentlichkeit Rede und Antwort stehen, wer wir eigentlich sind.
Cornelia Dell’mour
Präventionsbeauftragte der DSV